Aus Ajahn Brahm – Im stillen Meer des Glücks, S. 95f
Das mit »Güte« übersetzte Wort, das der Buddha gebrauchte, lautet Metta. Es bezeichnet einen inneren Zustand, jenes Wohlwollen, aus dem heraus wir einem anderen Glück wünschen oder Fehltritte verzeihen können. Für mich kommt Metta am besten in diesen Worten zum Ausdruck: »Die Tür meines Herzens steht dir für immer weit offen, wer du auch sein und was du auch getan haben magst.« Metta ist Liebe ohne ein Ich; sie geht aus Inspiration hervor, sie erwartet keine Gegengabe, sie stellt keine Bedingungen. Der Buddha verglich Metta mit der Liebe einer Mutter zu ihrem Kind. Eine Mutter ist vielleicht nicht immer einverstanden mit ihrem Kind oder dem, was es tut, aber sie wird immer für es da sein und ihm nichts als Glück wünschen. Von dieser offenen, nicht unterscheidenden und befreienden Güte ist Metta. Bei der Metta-Meditation sammeln Sie Ihre Aufmerksamkeit auf das Gefühl der Güte und lassen diese wohlige Regung anwachsen, bis Sie ganz davon ausgefüllt sind. Man geht dabei ähnlich vor wie beim Anfachen eines Lagerfeuers: Sie fangen mit Papier oder irgendetwas leicht Entflammbarem an, dann legen Sie Zunder, dürre Zweige oder Holzspäne darauf. Hat dieses Material ordentlich Feuer gefangen, können Sie dickere Zweige und schließlich Äste und Scheite in die Flammen legen. Brennt das Feuer einmal lodernd und mit viel Glut, können Sie sogar nass gewordenes oder frisches Holz auflegen, ohne die Glut zu ersticken.
So ist Metta wie ein Wärme abstrahlendes Feuer in Ihrem Herzen. Rechnen Sie aber nicht damit, dass Sie dieses Feuer in Gang bekommen, wenn Sie gleich mit schwierigen Objekten anfangen. Das ist so, als würden Sie ein Streichholz an ein dickes Holzscheit halten: Es wird nicht Feuer fangen. Im ersten Stadium dieser Meditation lassen Sie Metta nicht gleich sich selbst oder einem Feind zukommen, denn das kann sich als schwierig erweisen; wählen Sie etwas oder jemanden, dem Ihre Güte ohne Mühe zuströmt.
Zur Vorbereitung auf die Metta-Meditation verschaffe ich meiner Achtsamkeit erst einmal einen festen Stand im gegenwärtigen Augenblick. Dann leite ich die Metta-Meditation mit der Vorstellung eines ganz jungen Kätzchens ein. Ich mag Katzen, vor allem junge Katzen, und solch ein vorgestelltes Kätzchen ist für Metta ungefähr das gleiche wie Gas für eine Flamme. Ich brauche nur an mein Kätzchen zu denken, schon lodert mein Herz von Metta. Ich visualisiere weiterhin meinen imaginären Freund und stelle mir vor, dass er ausgesetzt wurde und Hunger hat und total verängstigt ist. In seinem noch so jungen Leben hat er nichts als Verwahrlosung, Gewalt und Einsamkeit erlebt. Ich sehe die hervorstehenden Knochen an seinem ausgezehrten Körper, das schmutzige und stellenweise blutverkrustete Fell, das ganze Entsetzen, in dem dieses Tierchen erstarrt ist. Ich mache mir klar, dass niemand sich um dieses schutzlose kleine Wesen kümmern wird, wenn ich es nicht tue, und dass es dann einfach einen einsamen, furchtbaren Tod sterben wird. Ich fühle diesen ganzen Schmerz in all seiner Vielfalt, und aus meinem Herzen ergießt sich eine Flut von Mitgefühl. Ja, ich werde mich um dieses Kätzchen kümmern. Ich werde es beschützen und füttern. Ich stelle mir den Blick tief in seine verängstigten Augen vor und versuche diese Angst mit der Metta, die in meinem Blick strömt, aufzulösen. Sehr langsam und ohne den Augenkontakt zu lösen strecke ich behutsam die Hände aus. Dann nehme ich das kleine Wesen sanft hoch und berge es an meiner Brust. Langsam geht meine Körperwärme auf das fröstelnde Tier über, ich spüre, wie seine Furcht in der sanften Umarmung vergeht und wie es Zutrauen fasst. Ich spreche mein Kätzchen an: »Du brauchst dich nie wieder so einsam zu fühlen, kleiner Kerl, du musst nie wieder solche Angst haben. Ich werde mich von jetzt an immer um dich kümmern als dein Beschützer und Freund. Ich hab dich lieb, mein Kätzchen. Wo du auch hingehst, und was du auch tun magst, meinem Herzen bist du immer willkommen. Meine grenzenlose Liebe und Güte sind dir allezeit sicher.« Ich fühle, wie mein Kätzchen warm wird und sich löst und schließlich zu schnurren beginnt.
Das ist in Umrissen der Beginn meiner Metta-Meditation. Ich nehme mir im Allgemeinen viel mehr Zeit dafür. Ich nutze mein Vorstellungsvermögen und das innere Sprechen, um mir ein geistiges Bild zu malen, eine Szene, in der Metta aufflammen kann. Am Ende dieser Übung, die Augen immer noch geschlossen, sammle ich die Aufmerksamkeit auf meine Herzgegend und fühle die ersten warmen Wellen von Liebe und Freundlichkeit.
Mein Kätzchen ist also wie das Papier, mit dem Sie Ihr Lagerfeuer entfachen. Wenn Sie kleine Katzen nicht mögen, wählen Sie etwas anderes, einen jungen Hund oder ein Baby zum Beispiel. Wählen Sie als erstes Objekt der Metta aber auf jeden Fall etwas Imaginäres, kein reales Wesen Ihrer Erfahrungswelt, Sie können ein Kätzchen oder einen Welpen oder ein Baby genau so gestalten, wie Sie möchten.
Mit einiger Übung entwickeln Sie diesen Ansatz zu einem zuverlässigen und erfreulichen Einstieg in die Metta-Meditation.
Wenn das erste kleine Metta-Feuer brennt, setzen Sie an die Stelle Ihres Fantasiewesens einen realen Menschen, jemanden, dem Sie innerlich sehr nahe stehen, etwa ihren Partner, eine besonders liebe Verwandte oder Ihren allerbesten Freund. Es soll jemand sein, dem Sie mühelos Liebe und Freundlichkeit entgegenbringen können. Diese Person steht in unserem Lagerfeuer-Bild für die ersten dürren Zweige oder den Zunder, den Sie auf das brennende Papier legen. Malen Sie auch diese Vorstellung so lebendig wie möglich aus, auch mit innerlich gesprochenen Worten. Dieser Mensch braucht Ihre Freundschaft und Liebe. Seine Gefühle sind verletzlich, die Misserfolge und Enttäuschungen des Lebens gehen nicht an ihm vorbei: Sprechen Sie innerlich zum Beispiel diese Worte: »Liebste Freundin, ich wünsche dir von ganzem Herzen Glück. Möge dein Körper frei von Schmerzen sein und dein Geist Frieden finden. Ich schenke dir meine Liebe ohne jede Bedingung. Ich werde immer für dich da sein. Du hast immer einen Platz in meinem Herzen, mir liegt sehr viel an dir.« Aber wählen Sie ruhig Ihre ganz eigenen Worte. Wählen Sie Ihre Worte so, dass sie ein warmes Strömen von Metta in Ihrem Herzen bewirken. Und jetzt bleiben Sie bei dieser Person, sehen Sie sie unmittelbar vor sich, bis Metta hell und stetig um sie ist. Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit dann kurz auf die Herzgegend Ihres Körpers, um die körperliche Empfindung von Metta deutlich zu spüren. Herrlich, nicht wahr?
Jetzt lösen Sie sich vom Bild dieser Person, und setzen Sie jemand anderen aus Ihrem engeren Kreis an die Stelle, den Sie wieder durch innerlich gesprochene Worte mit dem Gefühl von Metta umgeben: »Mögest du in Glück leben …« In unserem Feuer-Gleichnis legen Sie damit Äste und Scheite auf.
Sehen Sie zu, ob Sie sich Metta als ein goldenes Strahlen vorstellen können, das von einer wunderschönen weißen Lotosblüte in der Mitte Ihres Herzens ausgeht. Lassen Sie dieses Strahlen der Liebe und Freundlichkeit immer mehr in alle Richtungen gehen und immer mehr Lebewesen einschließen, bis es grenzenlos wird und alles erfüllt, was Sie sich nur vorstellen können. »Mögen alle Wesen nah und fern, groß oder klein, glücklich und in Frieden sein …« Tauchen Sie das ganze Universum in die Wärme dieses goldenen Lichts der Güte, und verweilen Sie eine Zeit lang so.
Unser Lagerfeuer lodert jetzt brausend und ist so heiß, dass es auch feuchtes Holz in Brand setzen kann. Denken Sie an jemanden, dem Sie ganz und gar nicht wohl gesonnen sind; visualisieren Sie jemanden, der Sie furchtbar gekränkt hat. Sie werden mit einigem Erstaunen wahrnehmen, dass Metta jetzt stark genug ist, um diesem Menschen zu verzeihen und die heilende Glut der Güte auch mit ihm zu teilen: »Freund, wenn ich dir heimzahle, was du mir angetan hast, hilft das keinem von uns, deshalb wünsche ich dir lieber alles Gute. Ich wünsche dir aufrichtig Freiheit von den Schmerzen der Vergangenheit und Freude in allem Zukünftigen. Möge die Schönheit dieser bedingungslosen Liebe und Freundlichkeit auch dich erreichen und dir Glück und Zufriedenheit bringen.« Wenn das Metta-Feuer wirklich brennt, kann ihm nichts mehr widerstehen. Und jetzt gibt es noch ein dickes Stück durchnässtes Holz, das in dieses Feuer muss: Sie.
Den meisten Meditierenden fällt es nämlich besonders schwer, sich selbst Metta zu schenken. Stellen Sie sich vor, Sie blickten in einen Spiegel. Sagen Sie sich innerlich und ganz im Ernst: »Ich wünsche mir alles Gute. Ich mache mir selbst das Geschenk des Glücks. So lange war mein Herz mir selbst verschlossen – jetzt öffne ich die Tür. Was auch immer ich je getan haben mag oder noch tun werde, meine eigene Liebe und meine Selbstachtung werden mir immer offenstehen. Ich verzeihe mir ohne jeden Vorbehalt. Komm nach Hause. Ich schenke mir jetzt die Liebe, die nicht urteilt. Dieses verletzliche Wesen namens Ich liegt mir am Herzen. Ich umfange mich in allem, was ich bin, mit der liebevollen Güte der Metta.« Erspüren Sie Ihre eigenen Worte, mit der Sie die Wärme dieser Güte tief in sich eindringen lassen können, bis an die Stelle tiefster Verunsicherung. Lassen Sie allen Widerstand davon abschmelzen, bis Sie diese grenzenlose Liebe und Güte wirklich sind und sich annehmen wie eine Mutter ihr Kind.